HARVARD. NEW YORK | SOMMER 1955
Ingeborg Bachmann reiste während ihres Harvard-Aufenthalts zweimal nach New York. Dort fiel ihr das atemberaubende Neonlicht am Times Square auf, das sie zu ihrem Gedicht Reklame inspirierte. Ein Besuch in Harlem während eines Wolkenbruchs führte zu ihrem Gedicht Harlem, das trotz der Verwendung rassistischer Stereotype ihre spätere Auseinandersetzung mit Imperialismus, Kolonialismus und Rasse in ihren Romanentwürfen vorwegnimmt.
Ingeborg Bachmann in Harvard
1955 besuchte Bachmann das achtwöchige Internationale Seminar der Harvard Summer School, dessen Leiter der junge Henry Kissinger war. Als sie am 4. Juli mit der Queen Mary in New York ankam, stellte sie fest, dass sie ihren Reisepass, ihr Visum und ihren Impfausweis verlegt hatte. Irgendwie gelang es ihr, die Grenzbeamten davon zu überzeugen, sie noch in der Nacht nach Harvard reisen zu lassen. Sie selbst bezeichnete sich als „die erste Person seit Kolumbus“, die ohne Papiere in die USA einreisen durfte.
In Harvard nahm sie zusammen mit Siegfried Unseld, ihrem späteren Verleger, am Geisteswissenschaftlichen Seminar teil. Zu dieser Zeit war Bachmanns zweiter Gedichtband, Anrufung des Großen Bären, beim Piper Verlag überfällig.
Ein Wochenendtrip nach New York City Anfang August inspirierte sie zu ihren Gedichten Reklame und Harlem und diente als Kulisse für ihr Hörspiel Der gute Gott von Manhattan von 1958. Eine Ausstellung mit dem Titel „The Symbols Project“ im Charles Street Universalist Meeting House in Boston beleuchtete die „Eule der Weisheit“, die zum zentralen Bild ihres Gedichts „Mein Vogel“ wurde.
In Harvard arbeitete Bachmann auch an ihrem Langgedicht Von einem Land, einem Fluß und den Seen, das sie zunächst dem Komponisten Hans Werner Henze widmete, sowie möglicherweise an An die Sonne. Am 23. August nahm Bachmann sechzehn ihrer Gedichte für den Harvard Poetry Room auf, bevor sie eine Woche in New York verbrachte. Als sie am 30. August an Bord der Queen Elizabeth ging, brachte sie Freundschaften und Erfahrungen mit, die ihr noch viele Jahre später zugutekamen.
Brief von Henry Kissinger (*1923)
an Ingeborg Bachmann, Cambridge / Massachusetts, Harvard University, 29.8.1955
My dear Ingeborg, / When you were walking away / on 42nd Street I thought to run after you and / to tell you something for which I had never found / the opportunity or the moods or the words. And / then I decided to wait till the next morning, / to call you at the Hotel Shelton to say good-bye once / more. But apparently I misunderstood the name / of the hotel. You were not to be found and you / did prove that your ingenuity is inexhaustible; that / if you do not lose your passport you manage to / lose yourself. […]”
Henry Kissinger, Leiter des Internationalen Seminars, war ebenso wie die anderen Seminarteilnehmer von Ingeborg Bachmann beeindruckt. Nach dem Seminar traf Kissinger Bachmann in New York wieder und korrespondierte weiterhin mit ihr. Sie schickte ihm ihre Schriften, die er las und lobte. Obwohl er versuchte, sie auf seinen Europareisen wiederzusehen, trafen sie sich 1957 kurz in München, später aber nie wieder.
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