Ingeborg Bachmanns Schreiben
Ingeborg Bachmanns Schreiben
Von den meisten Texten, die Bachmann zu Lebzeiten publiziert hat, sind keine ersten Notizen oder Entwürfe erhalten, oft auch nur wenige stärker abweichende Fassungen, obwohl die Autorin am Papier an ihren Texten gearbeitet hat und nicht zu den Schriftsteller:innen zu zählen ist, die Texte druckreif aus dem Kopf niederschrieben.
Eine bemerkenswerte Ausnahme der Überlieferung ist das Gedicht Früher Mittag, das in Bachmanns ersten Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) eingegangen ist. Da die komplexe Genese dieses Gedichts erhalten ist, lässt sich Bachmanns intensive Arbeit an dem Text exemplarisch darstellen: von den ersten handschriftlichen Notaten, den Typoskript-Fassungen mit umfangreichen handschriftlichen Überarbeitungen über den Erstdruck bis hin zur Erstausgabe; dabei spielen auch die Titelsuche und die Gestaltung der Strophen eine wichtige Rolle. Hans F. Nöhbauer zufolge äußerte sich Bachmann in einem Interview von 1962 über den Schreibprozess an ihren Gedichten:
„Zunächst: es gibt dafür keine Formel, kein Rezept. Doch meist stehen am Anfang zwei, drei Zeilen, die sie mit der Hand schreibt. Dieser Anfang, das sind mehr als ein paar Worte, mehr als ein Gedichtanfang, der später zu Ende geführt wird. Sie enthalten – Ingeborg Bachmann weiß nicht präzise anzugeben, warum und wie – das ganze zukünftige Gedicht.“ (Interview mit Hans F. Nöhbauer, 5. Jänner 1962. In: Ingeborg Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. Hg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum. München, Zürich: Piper 1983, S. 30-34, hier S. 33)
Die ersten handschriftlichen Notizen zu dem Gedicht finden sich auf der Rückseite eines Typoskripts des unveröffentlichten Gedichts „Fegefeuer“. Sie enthalten bereits zentrale Motive des späteren Werks. So etwa die Formulierungen: „Wo Deutschlands Himmel / die Erde schwärzt“, „Schmerzlich grünt die Linde“, „der Märchenvogel, / hat ein Grab unter den Steinen“, „aus |entstellter| Hand“.
Das erste überlieferte Typoskript des Gedichts trägt den Titel „Sieben Jahre später“. Umfangreiche Streichungen und handschriftliche Überarbeitungen zeigen, dass es sich um eine frühe Fassung handelt. Die einzelnen Motive der handschriftlichen Notiz werden nun weiter ausgearbeitet und textuell eingebettet, so grünt z. B. die Linde nicht mehr „Schmerzlich“ wie im handschriftlichen Entwurf, sondern „Leise“.
Das Gedicht befindet sich insgesamt noch im Entwicklungsstadium. Mit „Sieben Jahre später“ kommt nun erstmals das in den späteren Fassungen refrainartige Strukturelement der beiden Mittelstrophen ins Spiel. Diese frühe Typoskriptfassung endet mit den handschriftlich ergänzten Versen: „Handvoll Schmerz / aus der Schüssel des Herzens / verliert sich über den Hügel.“
In der Typoskriptfassung N389 wurden die Versgrenzen an einigen Stellen verschoben, die letzte Strophe ist ausgestrichen, die handschriftliche Überarbeitung jedoch wiederum getilgt. In den gestrichenen Passagen wird im Unterschied zu späteren Fassungen das Thema von Schuld und Verzeihen noch bildhafter und persönlicher angesprochen: „Sieben Jahre später ist vieles vergessen, / allein die Zeit ist verletzt von Worten / und verwundet vom Schweigen, […] Es ist so schwer zu verzeihen.“
Im Typoskript N390 wird erneut mit Versgrenzen experimentiert und es gibt einige Reduktionen mit rotem Farbstift. Zwischen Erstdruck und Erstausgabe ist eine Fassung erhalten, die den Titel Mittagslied trägt (N2061) und mit „Still“ statt mit „Leise“ einsetzt. Aus „der wiedergefundene, weißliche Mond“ ist „der mattglänzende Tagmond“ geworden; die letzte Fassung vor der Erstausgabe (N242) trägt erstmals den Titel Früher Mittag.
Zurück zur: