Früher Mittag
Früher Mittag
Mit dem Rotstift in der Hand las Bertolt Brecht „an einem kleinen Nachmittag“ im Sommer 1954 Bachmanns Gedichtband Die gestundete Zeit, den ihm die Schauspielerin Käthe Reichel aus ‚dem Westen‘ mitgebracht hatte. Er unterstrich die Verse, die ihm gefielen. In Früher Mittag unterstrich er die beiden mittleren Strophen des mehrstrophigen Gedichts, er ließ sie also gelten – sie hätten von ihm sein können.
Gerhard Wolf hat in einem Essay die Geschichte von Brechts Bachmann-Lektüre anhand der Erinnerungen von Käthe Reichel erzählt. Reichel habe bei den Zitat-Variationen in den hier zitierten beiden Strophen aus Früher Mittag an das „klassisch gewordene deutsche Kunstlied“ denken müssen, sie verstand sie als „kühne Adaption, mit der sich die lyrische Stimme in der zweiten Person ausspricht, die tradierte Ballade jäh in einem aktuellen Sinne verkehrt und uns durch diese Anrede miteinbezieht“. (Gerhard Wolf: An einem kleinen Nachmittag. Brecht liest Bachmann. In: Hans Höller: Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Hg. v. Hans Höller. Wien, München 1982, S. 173-182, S. 174)
Bachmann hat das Gedicht 1952 geschrieben, sieben Jahre nach dem Krieg und nach der Shoah. Die zwei Strophen, darin das Wort von Deutschland als „Totenhaus“, sind mit dem Begriff „Restauration“ nicht mehr zu erfassen. Sie unterscheiden sich von den meisten Zeitgedichten nach 1945 durch das Wissen von den traumatischen Erfahrungen des Kriegs und der Judenvernichtung, das für sie unabdingbar war für das Schreiben nach 1945.
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