Tagschwester, Nachtschwester
Danke meine Schwester
die mich weckt und lacht
die mein Gesicht wahr gesehen
hat und es wiedergespiegelt
hat durch Blässe, Stummheit.
Meine Schwestern sehen zuviel,
sind näher am Bett, sie sehn
daß in meinen Augen der Raum
stehn bleibt und seine [ - - ]
in mich bohrt, sehen, daß
die Wand auf mich zufällt
und mir den Ziegel ins
Meinen Schwestern, deren Namen
einmal auch von mir vergessen
sein werden, nicht für Dienst
Wohltat, Können, sondern
fürs Ertragen eines so flüchtigen
Nadeln bis ans Heft
ins Fleisch bohren
Das bruchstückhaft überlieferte Gedicht Tagschwester, Nachtschwester ist im Jahr 2000 im Piper Verlag erschienen (Ich weiß keine bessere Welt. Nachgelassene Gedichte, S. 62). Ingeborg Bachmanns Geschwister Isolde Moser, Heinz Bachmann und deren Neffe Christian Moser haben den Band herausgegeben.
Der „Dank“ in Bachmanns Fragment gebliebenem Gedicht, das die physische Gewalt der Leiden in aller Härte ausspricht, gilt den Krankenschwestern, die oft wenig Aufmerksamkeit für ihre Arbeit bekommen, ohne die kein Gemeinwesen bestehen könnte. Das Gedicht steht in einem Buch, das fast durchwegs gesichtslose, unmenschliche Schmerzen beschreibt, aber es würdigt zugleich das menschliche Sehen, ein weiter reichendes Sehen.
Es ist das Grundmotiv im Schreiben von Ingeborg Bachmann: Der Schriftsteller müsse den Schmerz „wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden.“ (Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, [Rede zur Verleihung Des Hörspielpreises der Kriegsblinden] in: I. Bachmann: Kritische Schriften. Hg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche, München 2005, S. 246-248, S. 246.)
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